Polarisierung im Nahostkonflikt

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English: Polarization in the Middle-East-Conflict

Moralische Verwirrung ist gewollt

Der Nahost-Konflikt polarisiert viele Menschen. Dabei scheinen viele ihren moralischen Kompass zu verlieren. Der Grund dafür liegt in dem Umstand, dass Konfliktlinien falsch identifiziert werden. Dies passiert nicht ohne Ursache. Die Ursache für diese starke Polarisierung im Nahostkonflikt liegt darin, dass einige Akteure in diesem Konflikt es sehr erfolgreich verstehen, die Konfliktlinien zu verschleiern, um eine Diskussion ihrer Methoden zu verhindern, bzw. sie als gegnerische Propaganda zu deklarieren und damit zu entwerten.

Illustration eines Blogartikels - 'Polarisierung im Nahost-Konflikt'Moralische Verwirrung

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Polarisierung im Nahostkonflikt: Diametrale Akteure

Zwei Parteien versuchen in diesem Konflikt, alle hinter sich zu scharen, doch sie verschleiern dabei die wahren Konfliktlinien. Es gibt auf beiden Seiten Menschen, die in Bezug auf das Territorium für ihre Partei Anspruch auf das gesamte zur Debatte stehende Gebiet erheben.

Auf Seiten der Palästinenser beruft man sich dabei unter anderem darauf, dass die Gründung des Staates Israel nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust gegen geltendes Völkerrecht verstieß und auf dem Gebiet bereits die Palästinenser lebten. Daher stellen sie das Existenzrecht des Staates Israel infrage und beanspruchen das gesamte Gebiet für die Palästinenser.

Gegenüberliegend auf Seiten der Israelis beruft man sich auf den Glauben, dass die Israeliten als „auserwähltes Volk“ das Gebiet von Gott zugesprochen worden sei. Daher wird auch hier teilweise das gesamte Gebiet für die Israelis beansprucht. Dies zeigt sich dann unter anderem in der Errichtung von Siedlungen auch in den Gebieten, die den Palästinensern zugestanden wurden.

Natürlich teilen diese Positionen nicht alle Palästinenser und Israelis, aber die Vertreter dieser Positionen stehen sich eben diametral gegenüber. Sie sind die Grundlage für die Polarisierung im Nahostkonflikt.

Beurteilung des palästinensischen Anspruchs

Es ist Fakt, dass in dem Gebiet bereits vor der Gründung des Staates Israel überwiegend muslimische Palästinenser gelebt haben. Natürlich haben Juden und Christen neben den Muslimen schon seit der Antike in dem Gebiet gelebt. Tatsächlich lag der Anteil der Juden bei der Staatsgründung Israels 1948 bei nur 30% der Bevölkerung. Dies ist eine Momentaufnahme, da in den Jahren zuvor bereits viele Juden zugewandert waren und der Staat Israel immer für die Zuwanderung weiterer Juden offen war. Die Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel widersprach also dem Mehrheitswillen der ansässigen Bevölkerung. Im Unabhängigkeitskrieg, der auf die Staatsgründung folgte, wurden ca. 750.000 Palästinenser in die Nachbarländer vertrieben, wo sie teils heute noch in Flüchtlingslagern leben.

Allerdings ist es so, dass selbst wenn man davon ausgeht, dass die Gründung des Staates Israel nicht legitim war, dies nicht heißen darf, dass man dieses Gebilde und mit ihm die Menschen, die in ihm leben, heute einfach beseitigen dürfe. Ich teile die Ansicht, dass über die Bedingungen für eine Rückkehr der vertriebenen Palästinenser und über Möglichkeiten des Ausgleichs gesprochen werden muss. Aber eine Vertreibung der Menschen, die heute in Israel leben, wäre ebenso ein Unrecht. Dazu später mehr.

Beurteilung des israelischen Anspruchs

Religiöser Glaube allein stellt, da bin ich mir sicher, keine legitime Grundlage für politische oder juristische Entscheidungen dar. Nur weil jemand daran glaubt, im Recht zu sein, ist er es noch nicht. Wer davon ausgeht, dass allen Menschen das gleiche Maß an Würde zukommt, der muß daran zweifeln, dass es ein Volk gebe, das von (einem) Gott auserwählt und bevorzugt sei. In meinen Augen sieht eine solche Bevorzugung der eigenen Zugehörigkeit wie Nationalismus oder Rassismus aus.

Darüber hinaus kann man fragen, wie sicher sich denn diese Leute sein können, dass sie ihre Herkunft auf die biblischen Stämme zurückführen können und wie stark diese Bindung sein soll. Auch umgekehrt kann man fragen, warum andere ihre Herkunft nicht auch darauf zurückführen können sollten. Tatsächlich erscheint es doch recht plausibel, davon auszugehen, dass auch viele der heute muslimischen Palästinenser ihre Herkunft in vorislamischer Zeit auf jüdische Wurzeln zurückführen könnten, wenn ihre Vorfahren immer im selben Gebiet gesiedelt hätten. – Ich finde derartige Überlegungen müßig und unsinnig. Wenn allen Menschen das gleiche Maß an Würde zukommt, sind solche Überlegungen über Herkunft ohne jede Bedeutung.

An dieser Stelle muß man allerdings auch ansprechen, dass der Staat Israel eine dominierende Position einnimmt. Israel agiert aus einer Position der Stärke, der die palästinensischen Seite nicht viel entgegenzusetzen hat. Damit schaffen sie es zumindest für die eigene Gruppe ein relatives Maß an Sicherheit zu erzeugen. Dies ist so weit legitim, aber man muß sich bewußt sein, dass Gewalt oder Stärke kein Recht stiftet. Nur weil man etwas tun kann, hat man noch nicht das Recht dazu.

Über Unrecht und Wiedergutmachung

Ein jeder Mensch hat ein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Er hat darüber hinaus verschiedene Menschenrechte und Bürgerrechte. Grundlage dafür ist, dass ein jeder Mensch das gleiche Maß an Würde besitzt.

Auf allen Seiten im Nahostkonflikt wurde in der Vergangenheit gewaltiges Unrecht verübt. Das ist eine Tatsache. Dieses Unrecht nahm verschiedene Formen an. Es handelte sich um Mord, Vertreibung, Ungleichbehandlung und Willkür.

Konkret könnte man den Akt der Staatsgründung Israels genauso als Unrecht benennen wie die terroristischen Anschläge seitens palästinensischer Gruppen. Genauso kann man die Errichtung jüdischer Siedlungen in Palästinensergebieten nennen, das Abgraben von Wasser als existentielle Ressource, die Entziehung oder Vorenthaltung kultureller, wirtschaftlicher und auch persönlicher Entwicklungsmöglichkeiten, die sich auch in der Vergangenheit, z.B. durch wiederholte Abriegelungen der Palästinensergebiete zeigte. Es zeigt sich in Verschleppungen und in Steinwürfen genauso wie in Schüssen von Scharfschützen in Menschenmengen. Es zeigt sich in Mord, in willkürlichen Raketen- und Bombenanschlägen ebenso wie in gezielten Tötungen und der Inkaufnahme sogenannter Kollateralschäden. Es zeigt sich in der Geringschätzung und Beleidigung anderer und der Gleichgültigkeit für Unrecht. Es zeigt sich im Hass.

Es zeigt sich in den vielen ermordeten Menschen nicht zuletzt auch auf dem Simchat-Tora-Festival am 07.11.2023, aber auch an den zivilen Opfern von Luftschlägen im Gaza-Streifen.

Aber nicht nur in dem Genannten zeigt es sich. Angesichts des vielen Unrechts, das auf beiden Seiten begangen wurde, weiß ich nicht, wo man eine Aufzählung beginnen und beenden sollte, und wie man dem Umfang des Unrechts damit gerecht werden soll. Man kann dem vielen Unrecht nicht durch eine Aufzählung gerecht werden.

Unrecht kann man nicht gegeneinander aufrechnen. Ein Unrecht kann ein anderes Unrecht nicht aufwiegen oder wiedergutmachen. Ein jedes Unrecht muss einzeln betrachtet werden.

Stattdessen sollte man stets eine Entschädigung von Unrecht angestreben. Entschädigung und Täter-Opfer-Ausgleich sind Grundsätze moderner Rechtsstaatlichkeit.

Was sagen Judentum und Islam dazu?

Exkurs: Entschädigung im Talmud

Der Talmud bestimmt, dass ein Unrecht gleichwertig und mit Blick auf fünf Aspekte entschädigt werden soll:

הַחוֹבֵל בַּחֲבֵרוֹ, חַיָּב עָלָיו מִשּׁוּם חֲמִשָּׁה דְבָרִים: בְּנֶזֶק, בְּצַעַר, בְּרִפּוּי, בְּשֶׁבֶת, וּבְבֹשֶׁת

Wer seinen Nächsten verwundet, ist dafür wegen fünf Momente schuldig, nämlich: Schaden, Schmerz, Heilung, Versäumnis und Beschämung.

Talmud, Mishna Bava Kamma 8: 1.
Mischnajot mit deutscher Übersetzung und Erklärung.
Rabbiner Dres. Sammter / Baneth / Petuchowski / Schlesinger / Cohn / Auerbach / Hoffmann,
Berlin, 1887-1933 (Zitiert nach: https://www.sefaria.org/).

Viele mißverstehen die Passage „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ als einen Inbegriff der Rachsucht. Doch das ist völlig falsch. Ein Recht auf Rache gibt es für die Menschen ausdrücklich nicht. An dieser Stelle wird nur die Gleichwertigkeit einer Wiedergutmachung betont. Dies wird aus dem gesamten Kontext der Passage ersichtlich, wo ausführlich dargelegt wird, wie der Ausgleich bemessen werden soll, nicht nur für Körperverletzung, sondern im weiteren Kontext auch für anderes Unrecht wie Sachbeschädigung.

Es handelt sich erstens um materiellen Schadensersatz, d.h. einen finanziellen oder sachlichen Ausgleich des durch das Unrecht angerichteten Schadens. Es handelt sich zweitens um Schmerzensgeld und davon unterschieden drittens der Ausgleich von Heilungskosten, viertens ein Ausgleich für Verdienstausfall, bzw. Arbeitsunfähigkeit oder sogar einfach für den Verlust an Lebensqualität generell und letzten Endes fünftens Entschädigung für die Beschämung.

Exkurs: Gerechtigkeit im Koran

Im Islam ist nach dem Koran Gerechtigkeit eine allgemeine und umfassende bindende Vorschrift, zu der Gott alle Menschen verpflichtet hat.

يَٰٓأَيُّهَا ٱلَّذِينَ ءَامَنُواْ كُونُواْ قَوَّٰمِينَ لِلَّهِ شُهَدَآءَ بِٱلۡقِسۡطِۖ وَلَا يَجۡرِمَنَّكُمۡ شَنَـَٔانُ قَوۡمٍ عَلَىٰٓ أَلَّا تَعۡدِلُواْۚ ٱعۡدِلُواْ هُوَ أَقۡرَبُ لِلتَّقۡوَىٰۖ وَٱتَّقُواْ
ٱللَّهَۚ إِنَّ ٱللَّهَ خَبِيرُۢ بِمَا تَعۡمَلُونَ

O ihr, die ihr glaubt, tretet für Gott ein und legt Zeugnis für die Gerechtigkeit ab. Und der Hass gegen bestimmte Leute soll euch nicht dazu verleiten, nicht gerecht zu sein. Seid gerecht, das entspricht eher der Gottesfurcht. Und fürchtet Gott. Gott hat Kenntnis von dem, was ihr tut.

Koran, Sure al-Māʾida (arabisch المائدة ‚Der Tisch‘) 5: 8.
Deutsche Übersetzung nach Dr. Adel Theodor Khoury (2004); (Arabisch zitiert nach: https://diegebetszeiten.de/).

فَلِذَٰلِكَ فَٱدۡعُۖ وَٱسۡتَقِمۡ كَمَآ أُمِرۡتَۖ وَلَا تَتَّبِعۡ أَهۡوَآءَهُمۡۖ وَقُلۡ ءَامَنتُ بِمَآ أَنزَلَ ٱللَّهُ مِن كِتَٰبٖۖ وَأُمِرۡتُ لِأَعۡدِلَ بَيۡنَكُمُۖ ٱللَّهُ رَبُّنَا
وَرَبُّكُمۡۖ لَنَآ أَعۡمَٰلُنَا وَلَكُمۡ أَعۡمَٰلُكُمۡۖ لَا حُجَّةَ بَيۡنَنَا وَبَيۡنَكُمُۖ ٱللَّهُ يَجۡمَعُ بَيۡنَنَاۖ وَإِلَيۡهِ ٱلۡمَصِيرُ

Dann rufe du auf und verhalte dich recht, wie dir befohlen worden ist. Und folge nicht ihren Neigungen, sondern sprich: Ich glaube an das, was Gott an Büchern herabgesandt hat, und mir ist befohlen worden, unter euch Gerechtigkeit zu üben. Gott ist unser Herr und euer Herr. Wir haben unsere Werke und ihr habt eure Werke (zu verantworten). Es gibt keinen Streitgrund zwischen uns und euch. Gott wird uns zusammenbringen. Und zu Ihm führt der Lebensweg.

Koran, Sure aš-Šūrā / asch-Schura (arabisch الشورى ‚Die Beratung‘) 42: 15.
Deutsche Übersetzung nach Dr. Adel Theodor Khoury (2004); (Arabisch zitiert nach: https://diegebetszeiten.de/).

Es wird also gesagt, dass der Gläubige sich zur Gerechtigkeit bekennen soll. Sogar Haß soll ihn nicht dazu verleiten, nicht gerecht zu sein. Jeder ist für seine Werke -oder Taten- selbst verantwortlich. Gott, bzw. für gläubige Muslime Allah wird alle zusammenbringen, also in Gerechtigkeit einen. Gerechtigkeit ist also etwas, was nicht den Gläubigen alleine vorbehalten ist.

Gerechtigkeit und Entschädigung sind allgemeingültige Grundsätze

Um die Gerechtigkeit zu erkennen braucht man weder Jude, Muslim oder Christ zu sein. Ein jeder Mensch, ob gläubig oder nicht, erkennt die Gerechtigkeit, wenn er es will.
Nicht nur der Koran sagt also, dass Menschen gerecht sein sollen, sondern man findet den Ruf nach Gerechtigkeit in aller Welt.

Auch gelten Regelungen für eine gleichwertige Entschädigung von Unrecht generell als eine gerechte Angelegenheit. Nicht nur der Talmud setzt sich hier mit der Frage auseinander, wie eine gerechte und gleichwertige Entschädigung aussehen sollte, sondern es ist davon unabhängig auch eine Frage, mit der sich ebenfalls Menschen in aller Welt auseinandergesetzt haben. So alt der Text des Talmud auch ist, scheint er an dieser Stelle soweit doch sehr modern und gerecht zu klingen.

Die Frage der Wiedergutmachung, das Recht auf Entschädigung und Ausgleich sind heute, wie bereits weiter oben gesagt, weltweit anerkannte Rechtsgrundsätze.

Polarisierung im Nahostkonflikt – Schuld haben immer die Anderen?

Ein Zweck, den die Polarisierung im Nahostkonflikt erfüllt, ist, dass sie es den Menschen einfach macht, die Schuld immer bei anderen zu suchen. Sie nimmt den Blick von den konkreten Tätern des Unrechts und lenkt ihn auf „die Anderen“.

Es darf nicht sein, dass man immer nur über das Unrecht spricht, das eine Gruppe erleidet. Dass man nur die Täter einer Gruppe belangen will, darf ebenso nicht sein. Das wäre nicht gerecht.

Recht gilt unabhängig, d.h. ohne Ansicht der Person. Wer mordet oder anderes Unrecht begeht, muss dafür zur Rechenschaft gezogen werden – unabhängig davon, ob er Israeli oder Palästinenser, ob er Jude oder Muslim ist. Unabhängig von Religion, Herkunft oder jedweder Gruppenzugehörigkeit.

Israelische Strafverfolgung darf israelische Täter nicht ausblenden und nicht besser behandeln. – Palästinenser müssen auch das Unrecht sehen, dass Palästinenser anderen antun und es als solches benennen.

Wer gerecht ist, sieht das Unrecht beider Seiten und die Täter und Opfer auf beiden Seiten.

Polarisierung im Nahostkonflikt – Kollektivierung von Schuld

Verschiedentlich wird behauptet, die Gewalt gegen Israelis solle der Befreiung der Palästinenser dienen. Doch das ist keine Freiheit. Das Fehlen an Freiheit auf Seiten der Palästinenser geht nicht nur auf Unrecht zurück, das sie durch die israelische Seite erleiden müssen, sondern sie sind auch nicht frei wegen der Gewalt anderer Palästinenser. Man muss berücksichtigen, dass die Waffengewalt der palästinensischen Milizen sich nicht nur gegen Israel richtet, sondern sie auch die Palästinenser zur Gefolgschaft pressen. Man darf also nicht alle, die sich zur Hamas und den in ihrem Namen begangenen Verbrechen bekennen, auch als Täter behandeln, denn viele Palästinenser sind in ihren Äußerungen nicht frei.

Nur weil Menschen in den Palästinensergebieten Zeichen der Hamas tragen, macht sie das noch nicht selbst zu Tätern von Unrecht. Möglicherweise versuchen sie nur, der Gewalt in ihrer näheren Umgebung zu entgehen. Oder sie gelten als Zeichen einer eigenen Popkultur. In anderen Teilen der Welt ist auch nicht jeder, der ein Che-Guevara-T-Shirt trägt gleich ein terroristischer revolutionärer Linksextremist und Mörder. So sehr ich es verabscheue, wenn ich sehe, wie Menschen den Mord an anderen Menschen bejubeln, so sehr muß ich anerkennen, dass ein Demonstrant, selbst wenn er Mord bejubelt, selbst noch kein Mörder ist.

Nicht jeder Palästinenser oder Muslim ist also Schuld am Unrecht, das an Israelis oder Juden verübt wird. Auf der anderen Seite ist sicherlich nicht jeder Mensch mit israelischer Staatsangehörigkeit oder jeder Angehöriger jüdischen Glaubens Schuld am Unrecht gegen Palästinenser.

Ist es gerecht, willkürlich Menschen zu ermorden, nur weil man sie einer anderen Gruppe zuordnet? – Nein, sicherlich nicht. Es ist nicht gerecht, wenn wahllos Menschen auf einem Musikfestival ermordet und entführt werden. Und wenn Menschen ganze Städte bombardieren, weil man dort Schuldige vermutet, ist das auch nicht gerecht. Beides ist Unrecht. Unrecht erzeugt auf allen Seiten nur neues Unrecht.

Polarisierung im Nahostkonflikt? – Jeder ist für seine eigenen Taten verantwortlich!

Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Mord ein Verbrechen ist und die Täter in Gefängnisse gehören. Dies gilt natürlich nicht nur für Mord, sondern auch für viele weitere Verbrechen und sehr verschiedenes Unrecht. Täter und Opfer gibt es im Nahostkonflikt auf beiden Seiten.

Die Täter beider Seiten bemühen sich um eine Polarisierung im Nahostkonflikt in ihrem Sinne. Sie suchen die Zugehörigkeit und Zustimmung großer Gruppen. Dabei geht es auch um die Kollektivierung von Schuld, um Vereinnahmung für die eigene Sache und die Bildung gemeinsamer Feindbilder. Dies nimmt den Blick von den Tätern. Man kann und darf aber nicht Großgruppen für die Taten von Individuen zur Rechenschaft ziehen. Das wäre nicht gerecht.

Die moderne Rechtsstaatlichkeit nimmt konkrete Personen, Täter wie Opfer, und konkrete Taten in den Blick. Es gilt das Prinzip der individuellen Schuld.
Das bedeutet, dass man Schuld nicht bei ganzen Gruppen sucht, sondern tatsächlich konkrete Täter für konkrete Taten belangt.
Die zuvor wiedergegebenen Zitate aus dem Talmud und dem Koran weisen in dieselbe Richtung.

Polarisierung im Nahostkonflikt: Stärkung der Rechtsstaatlichkeit

Im direkten Vergleich kann man sagen, dass Israel weitestgehend ein Rechtsstaat ist, man dies aber von den Palästinensergebieten sicherlich bei weitem nicht sagen kann.

So wurden beispielsweise seitens Israel nicht erst im Rahmen aktueller Luftangriffe unschuldige Opfer inkaufgenommen, sondern auch bereits bei früheren gezielten Tötungen von Verdächtigen. Das ist Unrecht. – Rechtsstaatlich sind Ermittlungen, Verhaftungen, Gerichtsverfahren und damit auch eine Verurteilung auf Grundlage von Beweisen der richtige Weg, nicht eine mehr oder weniger gezielte Tötung von Verdächtigen. Dies ist ein Beispiel für einen Makel an der israelischen Rechtsstaatlichkeit, weitere zeigen sich oft in Fragen der Verhältnismäßigkeit.

Die Palästinenser haben in diesem Punkt sicherlich einen wesentlich weiteren Weg zurückzulegen. Es wäre neben vielen anderen Punkten sicherlich wünschenswert, wenn Täter ausgeliefert und (nicht nur die israelische) Rechtsprechung anerkannt würden. Und ein Freipressen verurteilter Straftäter mit Gewalt ist ebenso ein Unrecht und strafbares Verbrechen. Das gilt für das Ziel wie auch für die eingesetzten Mittel und die Entführung und Ermordung von Menschen.

Das Unrecht muß von neutralen Ermittlern untersucht und vor zivilen unabhängigen Gerichten verhandelt werden. Weder in den Palästinensergebieten noch im Staat Israel hat man das bislang vollständig geschafft. Beiden fehlt es an der notwendigen Rechtsstaatlichkeit und manchmal auch am Sinn der Opfer für das Beschreiten dieses Wegs. Viel Vertrauen wird aufgebaut werden müssen, damit die Menschen Vertrauen zu rechtsstaatlichen Verfahren gewinnen. Dazu ist es erforderlich, dass alle Seiten die Arbeit der Institutionen des Rechtsstaat als gerecht empfinden. Statt Steine oder Bomben zu werfen, statt neues Unrecht zu schaffen, müssen die Menschen die Täter vor einem Gericht verklagen.

Es liegt keine Gerechtigkeit darin, ein Unrecht mit neuem Unrecht zu beantworten.
An die Stelle von immer neuem Unrecht muß Entschädigung von Unrecht treten.

Polarisierung im Nahostkonflikt: Die eigentliche Konfliktlinie

Dies ist kein Konflikt zwischen Juden und Muslimen. Dies ist kein Konflikt zwischen der israelischen Armee und der Hamas. Dies ist kein Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis. Es ist ein Konflikt zwischen denen, die beständig neues Unrecht schaffen und denen, die sich ein gemeinsames Zusammenleben vorstellen können.

Ich stehe nicht bei den Muslimen oder den Palästinensern.
Ich stehe aber auch nicht bei den Juden oder den Israelis. –
Ich stehe bei denen, die sich einen dauerhaften Frieden wünschen und mithin bei den Gerechten.

Die Gerechten sehen, dass es diejenigen, die neues Unrecht schaffen, auf allen anderen Seiten gibt, nämlich unter den Israelis wie unter den Palästinensern, unter den Juden wie unter den Muslimen. Und nein, ich rechne das Unrecht hier nicht gegeneinander auf. Das führte zu nichts. Ein jedes Unrecht muß vermieden oder, wenn es möglich ist, vergolten und entschädigt werden. Dies wird in einem Rechtsstaat geregelt.

Einen wahren Frieden gibt es nur miteinander, nicht gegeneinander. Die Menschen müssen lernen, miteinander zu leben.

Ein Ausblick in eine friedliche Zukunft

Es mag heute nach den aktuellen Ereignissen ferner sein als zuvor. Aber ich sehe die Lösung des Nahostkonflikts nicht in einer Zweistaatenlösung.

Zum einen habe ich den Eindruck, dass der Staat Israel ein souveränes Palästina nicht will. Auch scheint selbst die Gebietsaufteilung bereits des ursprünglichen Teilungsplans sehr eigenwillig und unpraktikabel. Es darf aber auch nicht sein, die palästinensiche Bevölkerung in Rechtsunsicherheit zu belassen. Sie können nicht dauerhaft rechtlos in de facto von außen israelisch kontrollierten und von innen von Milizen terrorisierten Gebieten leben. Auch die Dauerhaftigkeit der Flüchtlingslager ist inakzeptabel.

Die Palästinenser haben in Sachen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit noch viel zu lernen und schaffen das wohl nicht alleine. Ich sehe daher in einem gemeinsamen Staat den einzigen Weg zu einem dauerhaften Frieden – mit vollen Bürgerrechten für alle Menschen, die im Gesamtgebiet leben. Dies ist nicht schnell und nicht in einem Schritt zu schaffen. Es wird Zeit brauchen. Aber der Konflikt dauert bereits lange genug, um dem Prozess diese weitere Zeit zu geben.

Dauerhaften Frieden wird es nur dann geben können, wenn die Menschen lernen, miteinander zu leben. Sie müssen lernen, einander zu vertrauen und ihr Leben und ihre Sicherheit in die Hände eines funktionierenden Rechtsstaats zu legen, der in der Lage ist, verschiedene Interessen in Einklang zu bringen, und neuem Unrecht mit rechtsstaatlichen Mitteln begegnet. Dies bedeutet auch Entschädigung und Gerechtigkeit. Ich sehe die Lösung in einem gemeinsamen Staat als die menschliche Lösung. Denn dieser Staat wäre kein Staat von Juden oder von Palästinensern, sondern ein Staat der Menschen und für Menschen. Dies impliziert eine Auflösung der üblichen Polarisierung in Nahostkonflikt. Die Täter auf beiden Seiten werden das mißbilligen.

Leseempfehlungen

Ich habe bereits 2018 einen Blog-Artikel zu diesem Thema geschrieben:

Blog-Artikel: Frieden für Israel – Palästina – Lösung des Nahostkonflikts

Um das Ziel zu erreichen scheinen dazu heute viel mehr und kleinere Schritte erforderlich zu sein. Es wird länger dauern. Hoffen wir, dass die verbitterten alten Generationen die Jugend mit ihrem Hass nicht noch weiter vergiften. Sie schaffen beständig neues Unrecht.

Tiefergehende Informationen zur weiteren Lektüre:
Das junge Politik-Lexikon: Nahostkonflikt,
Gerd Schneider / Christiane Toyka-Seid, Bundeszentrale für politische Bildung, 2023.
Die Gründung des Staates Israel,
Angelika Timm, Bundeszentrale für politische Bildung, 2008.
Historische Entwicklung der jüdischen Einwanderung,
Jan Schneider, Bundeszentrale für politische Bildung, 2008.

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