Gefahr für die Demokratie und Netzneutralität
Heute wissen viele Menschen darum, dass Daten ausgewertet werden, um zielgerichteter Werbung betreiben zu können. Dieses Modell ist sehr erfolgreich und nur wenige scheinen daran wirklich Anstoss zu nehmen. Wenn dieselben Möglichkeiten allerdings statt für kommerzielle Interessen für politische Interessen eingesetzt werden, dann stellen sie eine Gefahr für die Demokratie dar, die bislang noch nicht diskutiert wird. Das zu besprechende Thema nennt man Netzneutralität.
Persönlichkeits- und Meinungsbildung sind sensible Prozesse und uns Menschen gefällt die Vorstellung in der Regel nicht, dass unsere Identität nicht allein unserem freien Willen entspringt, sondern auch das Produkt sozialer Prozesse ist.
Warum ist Netzneutralität wichtiger als viele denken ? –
Sei keine Marionette! – Denke nach! – Für Netzneutralität!
Funktionsweise moderner Werbung
Wir sagen, wir wollen das neue Produkt. Wir reflektieren nicht, warum wir es wollen. Selten sind die Dinge, die wir begehren, eine Lebensnotwendigkeit. Vielleicht wollen wir es, weil andere (in unserem Umfeld) es auch wollen und wir uns nicht aus- oder abgrenzen wollen. Weil wir uns Prestige und Anerkennung erhoffen. Oder weil die Werbung für dieses Produkt uns besser erreicht als die Werbung für andere Produkte. Oder weil es besser ist? – Oft sind andere Produkte aber auch nur einfach anders und nicht tatsächlich besser oder schlechter. Oder die Werbung für bessere Produkte erreicht uns erst gar nicht? – Die Überprüfung dieser Frage ist immer in jedem Fall mit viel Arbeit und Recherche verbunden und nicht immer leisten wir uns diese Investition an Zeit und Arbeit.
Personengenaue Ansprache
Wie gehen die Werbetreibenden mit dieser Situation um? – Die Zeiten als einfach nur Werbung gemacht wurde, sind lange her, weil diese viel zu ineffektiv war. Hat man danach lange Zeit mit Zielgruppen gearbeitet und versucht eine Gruppe anhand statistischer Merkmale zu bestimmen, die dann besonders für ein Produkt beworben werden konnte, so geht man nun noch einen Schritt weiter. Heute versuchen Werbetreibende ihre Werbung ganz individuell beim einzelnen Kunden zu platzieren, um Streuungseffekte zu vermeiden und so die größtmögliche Effektivität für ihre bezahlten Werbemaßnahmen zu erreichen. An dieser Stelle sind wir noch nicht einmal bei den Cookies, die als kleine Dateien auf ihrem eigenen Rechner gespeichert werden. Kundendaten werden dabei als Betriebsgeheimnisse und Handelsware begriffen.
So entstehen intime Profile der potentiellen Kunden und es werden Sachverhalte gespeichert, die wir alle von uns selbst kaum wahrnehmen und normalerweise schnell vergessen. Auf der Basis dieser intimen Informationen können nun die potentiellsten Kunden gezielt und sehr persönlich und damit auch sehr effektiv angesprochen werden. Der Erfolg ihrer darauf basierenden Werbemaßnahmen ist kontrollierbar und belegt.
Meinungsbildung – nicht nur kommerzielle Werbung
Was passiert nun, wenn dieses Spiel nicht nur von kommerziellen Interessen angefeuert wird? – Im Bereich der Meinungsbildung gab es in der Vergangenheit viele Stimmen, die sich gegen die Konzentration der Medienkonzerne gerichtet haben, weil sie um die Unabhängigkeit von Informationen gefürchtet haben. Das Internet schien nun eine ideale Lösung zu bieten, Informationsverbreitung zu demokratisieren, bzw. unabhängig zu verbreiten, da ja jedermann jederzeit über jeden Sachverhalt schreiben und lesen kann. Doch dies ist nur ein Aspekt des Internets, andere arbeiten dagegen. Schon die Werbetreibenden nutzen die sogenannten „sozialen Netzwerke“, wo sich Menschen zu Netzwerken verbinden. Innerhalb dieser Netze entsteht oft eine Art Mikroklima.
Gruppendynamik, Werbung und Propaganda
Wenn Menschen, die viel miteinander gemeinsam haben, immer nur miteinander zu tun haben, kommt es zu gruppendynamischen Prozessen. Dazu kommt, dass Werbung wie Propaganda mit dem Mittel der Wiederholung arbeiten, die getroffene Aussagen nicht an Wahrheit gewinnen läßt, aber trotzdem eine deutliche Wirkung zeitigt. Soziale Netze werden mit jeder Aktion ihrer Teilnehmer dichter und je dichter ein Netz, desto stärker der Einfluss auf den Einzelnen. Im extremen Beispiel kann so das Netzwerk zu einer totalen Institution werden. Werbung und Propaganda können sich diese Phänomene bewußt dienstbar machen, indem sie durch ihre Einflussnahmen lenkend wirken. In der Folge kann die Gruppendynamik so weit gehen, dass sich die Teilnehmer für die propagierte Sache selbst in Dienst nehmen.
Im kommerziellen Bereich geht es dann um Verbesserungsvorschläge durch Kunden oder Fan-art (künstlerischer Umgang mit eigentlich geschütztem Material durch Fans). Es ist hier eine starke und gewünschte Assoziation von Kunden / Fans und Unternehmen / Phantasiewelt zu beobachten. In anderen Bereichen kann es aber auch bedeuten, dass Anschläge geplant und durchgeführt werden, um innerhalb des Netzwerks Anerkennung zu finden, wobei die Anstifter selbst wenig eingebunden sind (Bekenntnisse hin oder her) und nicht zu ermitteln sein dürften (so wenig wie die wirklichen Absichten der unterschiedlichen anstiftenden Akteure). – Dies ist zugegebenermassen ein extremes Beispiel.
Netzneutralität gegen individuelle Zensur
Also: Die Technik ist soweit, dass Werbung individuell zugeschnitten wird. Wir stehen längst an dem Punkt, dass auch Nachrichten nach unseren vermeintlichen Interessen für uns individuell zusammengestellt werden. Dies ist schlimmer als der „gläserne Bürger“. – Es ist das Ende der Meinungsfreiheit, weil das Bild, das wir von der Welt gewinnen nicht mehr umfassend ist. Jemand sucht aus, welche Nachrichten wir erhalten. Früher nannte man das Zensur. Ich für meinen Teil möchte selbst aus der Gesamtheit der Informationen entscheiden, was ich wie zur Kenntnis nehme. Ich will nicht, dass andere (oder ein Algorithmus) für mich auswählen, sondern ich will selbst auswählen – und das gesamte Spektrum sehen.
Demokratie verlangt nach Netzneutralität!
Wie persönliche Daten wird auch Information heute als Ware gehandelt. Einerseits geschieht dies rein kommerziell, weil auch Medienunternehmen kommerziell handeln, zum anderen stehen diese Möglichkeiten auch denen offen, die aus propagandistschen Gründen Arbeitskraft, Zeit und Geld investieren, um die Meinungsbildung zu beeinflussen. Neben Beeinflussung des Kaufverhaltens oder in politischen Einzelfragen kann auch jede Form von Fanatismus und Extremismus gestärkt werden, sei es politisch, ideologisch oder auch religiös.
Undemokratische Staaten und Wirtschaftsunternehmen haben gemeinsam, dass sie in sich nicht demokratisch strukturiert sind. Wir müssen eine Entscheidung treffen, ob kommerzielle Interessen das Internet dominieren dürfen -und damit implizit auch politische Akteure von Propaganda- oder ob demokratische Strukturen erhalten werden. Dies begründet die Forderung nach Netzneutralität. Ich benutze den Begriff hier breiter als in der gängigen Debatte zu diesem Thema. Mir geht es nicht nur um die Geschwindigkeit von Zugang: Ohne ungefilterten und unsortierten Zugang gibt es keinen freien Zugang zu Information. Ohne freien Zugang zur Information gibt es keine freie Meinungsbildung. Der Zugang zu Information ist eine wichtige Grundlage für jede Demokratie.
Ein Vorschlag
Nur ein Gedanke: Vielleicht sollte man sogar daran arbeiten, die aus dem Wahlrecht bekannten Attribute „allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim“ im Sinne der Netzneutralität auch auf den Zugang zu Information anzuwenden:
allgemein – Information muss für jeden Menschen allgemein verfügbar sein und jeder Mensch darf seine Informationsquellen selbst wählen.
unmittelbar – Information darf nicht nur in bereits verarbeiteter, interpretierter oder sortierter Form zur Verfügung stehen. (In diesem Sinne sehe ich die Facebook-Kampagne („internet.org“) sehr kritisch: Vor der Hand geht es um Internetzugang für Menchen in Entwicklungsländern. Die Kehrseite ist das Konzerninteresse an Reichweite für eigene Dienste, Werbeeinnahmen usw. – manche Menschen in so beglückten Ländern halten die Facebook-Dienste und ‚das Internet‘ für identisch …)
frei – Zugänglichkeit zu allen Informationen (nicht Angeboten) und Stellungnahmen/Positionen. Es darf keine Beschränkung erfolgen. Dies gilt auch für die Produktion von Inhalten.
gleich – Geschwindigkeit, Kosten, Barrierefreiheit
geheim – Anonyme Informationsbeschaffung und Meinungsäusserung müssen ermöglicht werden. Dies ist ein sensibler Punkt. Auch ich erfahre gern, wer der Urheber von Beiträgen ist usw. und ich beziehe sicherlich nicht Stellung gegen eine grundsätzliche Impressumspflicht, aber es gibt gewichtige Gründe, die berücksichtigt werden müssen: Menschen, die in totalitären Systemen leben, können durch freie Meinungsäußerung oder auch schon den Besuch regimekritischer Webseiten erhebliche Probleme bekommen. Auch Whistleblower sind für mich eher Kronzeugen für das Volk -bzw. die Öffentlichkeit- gegen illegitimes oder illegales Handeln von Regierungen und Unternehmen. Der journalistische Quellenschutz sollte übertragbar sein auf Menschen, die sich statt sich einem Journalisten anzuvertrauen das Internet selbst nutzen. Beides dient demselben Zweck.